Stefan Strötgen ist Promotionsstudent der Universität Bayreuth. Er erforscht die Funktionalisierungen von Musik und Klang im Zusammenhang mit Markenkonzepten ('Audio-Branding').

Heft 3

Über Wagner

Mai 2012

ISSN 2191-253X

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Michael Haverkamp, Synästhetisches Design. Kreative Produktentwicklung für alle Sinne, München, Wien: Hanser 2009

von Stefan Strötgen

Angesichts des Titels mag eine Vorstellung dieses Buches hier zunächst etwas deplatziert anmuten, scheint es doch vor allem für Produktdesigner verfasst zu sein. Tatsächlich ist dies auch die primäre Zielgruppe der Publikation von Haverkamp, der selbst Ingenieur und im Automobildesign der Ford-Werke in Köln tätig ist. Die Relevanz für den Fachbereich Musik und Performance, der Musik als Teil einer mit allen Sinnen erlebten Welt betrachtet, erschließt sich jedoch recht schnell angesichts des erklärten und recht ambitionierten Ziels, "alle Möglichkeiten der Verknüpfung von Sinnesempfindungen zusammenzustellen" (S. VI). So verweist Haverkamp selbst auch auf die Bedeutung des Themas für Bereiche wie musikalische Aufführung, Film oder Video-Spiele (S. VII). Die Synästhetik beschäftigt sich mit der Verbindung der Sinne und geht davon aus, dass jede Wahrnehmungsart neben ihren spezifischen Eigenschaften immer auch Anknüpfungspunkte zu Eindrücken anderer Sinne bietet. Der Ansatz ist weder in der Kunst noch in der Wissenschaft neu;1 neu ist allerdings die überzeugend geschlossene Systematik und gleichzeitige Offenheit von Haverkamps Modell der Sinnesverknüpfungen, mit dem er einen guten und mit zahlreichen Forschungsergebnissen und Abbildungen unterfütterten Überblick zum Thema bietet.

Die ersten beiden Kapitel (1.1; 1.2) dienen der Heranführung an das Konzept der Synästhetik mit speziellem Zuschnitt auf das Produktdesign, wobei Haverkamp, der Design ganz im Sinne der Bauhaustradition als angewandte Kunst versteht (S. VI), immer wieder Beispiele aus bildender Kunst und Musik einfließen lässt. Anschließend (1.3) folgt eine Einführung in die Physiologie und Psychologie der einzelnen Wahrnehmungsmodalitäten, die schließlich über das Konzept der multisensuellen Wahrnehmungsobjekte (1.3.4) miteinander verbunden werden. Hier zeigt sich bereits der umfassende Anspruch von Haverkamps Ansatz, indem er nicht auf der Ebene reiner Wahrnehmungsmechanismen verbleibt, sondern auch die Rolle von Umfeldfaktoren sowie den aktiven Rezipienten betont, der in Abhängigkeit des eigenen Wissens, individueller und sozialer Prägung etc. seine Wahrnehmung selber mitgestaltet. In diesem Zusammenhang hebt er auch die Notwendigkeit einer Verknüpfung naturwissenschaftlicher und introspektiv-phänomenologischer Methoden zur Erforschung des Gebietes hervor, um Zugang zu den letztlich entscheidenden, jedoch nicht objektiv beobachtbaren Wahrnehmungsempfindungen (Qualia) zu erhalten (1.3.5 bis 1.3.6). Den Abschluss dieses Einführungskapitels bilden Überblicke zu den wahrnehmungspsychologischen Konzepten der Gruppierung, Gestalt- sowie Vorder- und Hintergrundwahrnehmung.

In Teil 2 geht Haverkamp detailliert auf die Verknüpfungsarten der Sinnesbereiche ein, die er in fünf verschiedene Kategorien gliedert. Von besonderer Relevanz, weil prinzipiell jedem Individuum zugänglich, sind für ihn dabei die drei Kategorien der intermodalen Analogie, der konkreten Assoziation und des Symbols beziehungsweise der Metapher.

Mit der intermodalen Analogie (2.2) bezeichnet Haverkamp die spontane und kontextbedingte "Fähigkeit des Wahrnehmungssystems, über die Sinnesgrenzen hinweg Korrelationen zu erkennen und zur Identifizierung von Objekten und Atmosphären auszuwerten" (S. 133, Hervorhebung original). Gemeint ist damit die Entsprechung elementarer Wahrnehmungsqualitäten, zum Beispiel die Analogie eines rauen Klangeindrucks zu einer rauen Oberfläche (auditiv/taktil, visuell). Die einzelne Analogie ist bei Haverkamp jedoch kein zwangsläufig auftretendes Wahrnehmungsphänomen, sondern immer wahrscheinlichkeitsbasiert (S. 133–136). Sie kann je nach Situation und Individuum auch zu anderen Attributionen führen und ist nicht bi-direktional.2 In Bezug auf Musik und Klang wird gleich eine ganze Palette an synästhetischen Qualitäten diskutiert: Synchronie-Effekte, rhythmische Analogien zu bildender Kunst und Architektur, Farb-Ton-Korrelationen, Klang-Form-Eindrücke, Tonfrequenz und visuelle Höhe, Verknüpfungen von Klang, Duft und Geschmack, Bewegungseigenschaften von Musik sowie räumliche Eigenschaften von Klang.

Bei der konkreten Assoziation (2.3) ruft die Wahrnehmung einer Modalität die Assoziation an ein bestimmtes multisensuelles Wahrnehmungsobjekt wach. Dies ist aber nicht nur kontextabhängig, sondern erfordert im Gegensatz zu der intuitiv zugänglichen intermodalen Analogie auch immer das gelernte Wissen um den Zusammenhang von Reizen und damit assoziierten Wahrnehmungsobjekten.3 Hier diskutiert Haverkamp zunächst sehr ausführlich visuelle Eindrücke, widmet sich dann aber auch der akustisch-musikalischen Dimension in seinen Ausführungen zu Laut- und Klangmalerei (2.3.2). Neben den üblichen Beispielen der Geräuschimitation in musikalischen Werken erwähnt er in diesem Zusammenhang auch die Anlehnung an Stimmverläufe in der Instrumentalmusik als wichtigen Faktor. Insgesamt bleibt in diesem Abschnitt die Betrachtung von Musik und Klang etwas oberflächlich, was wohl der speziellen Ausrichtung des Buches geschuldet ist. Das Prinzip der konkreten Assoziation wird jedoch deutlich und bietet auch reichlich Transfermöglichkeiten aus der Diskussion der anderen Sinneseindrücke.

Symbol und Metapher (2.4) schließlich erfordern die spezifische Kenntnis einer Bedeutung, die sich prinzipiell arbiträr zu den jeweiligen Reizen verhält und somit auch veränderbar ist. Sie entstehen per Konvention und diese Konventionen müssen gelernt werden. Unter 2.4.5 finden sich auch einige grundlegende Ausführungen zur Musiksymbolik anhand der Beispiele von Hymnen und Leitmotivik, wobei auch ein Basismodell der synästhetischen musikalischen Symbolgenese vorgestellt wird (S. 245). Außerdem wird ein kurzer Exkurs zur Farbsymbolik in der Musik (S. 231f) durchgeführt. Recht ausführlich (2.4.3) diskutiert Haverkamp hier die Nutzung synästhetischer Metaphern im Rahmen semantischer Differentiale zur Messung von Wahrnehmungseindrücken (z.B. indem Klänge mit Begriffspaaren wie 'hart-weich',  'grob-fein' etc. beschrieben werden)

Abgegrenzt werden diese drei Kernbereiche zur genuinen Synästhesie und der mathematisch-physikalischen Verknüpfung. Mit genuiner Synästhesie (2.5) bezeichnet Haverkamp das landläufig mit dem Begriff beschriebene Phänomen der individuellen und unwillkürlichen Sekundärempfindung einer Modalität bei Verarbeitung von Reizen einer anderen Modalität (z.B. Farbwahrnehmungen beim Musikhören). Hier referiert er recht ausführlich Forschungsergebnisse und führt auch eine ganze Reihe anschaulicher Beispiele für das Phänomen an. Zwar sind die Wahrnehmungen einzelner Synästhetiker immer individuell und damit nicht im Detail verallgemeinerbar, jedoch zeigten gerade diese Phänomene, wie eng unsere Sinne miteinander verknüpft sind, weswegen eine Auseinandersetzung mit diesem Forschungsbereich eine viel versprechende Perspektive böte (S. 271f). Nahezu entgegengesetzt ist schließlich die mathematisch-physikalische Verknüpfung (2.6), bei der multisensuelle Eindrücke nach bestimmten, nicht intuitiv zugänglichen oder symbolisch codierten Algorithmen miteinander gekoppelt werden. Besonders intensiv geht er dabei auf audiovisuelle Kopplungen und abermals speziell auf Farb-Musik-Korrelationen ein.

In Teil 3 widmet sich Haverkamp zunächst (3.1) der Integration der Sinnesbeiträge, für das er ein Konzept entlang dreier Achsen vorschlägt: Die jeweilige Art der Integration intermodaler Strategien verläuft über die simultane Integration über einzelne Attribute entlang einer Zeitachse, welche die Ebene der sequenziellen Integration darstellt. Aufgrund der Integration der verschiedenen Modalitäten entstehen "neue Wahrnehmungsqualitäten, die keiner der beteiligten Sinneskanäle für sich generieren kann." (S. 295) Zu beachten sei dabei allerdings, dass es im Zusammenspiel der Sinne auch zu Wahrnehmungskonflikten kommen könne, auf die er anschließend (3.1.2) genauer eingeht.

Auf den folgenden über 80 Seiten werden vorwiegend produktdesignorientierte Themen erörtert, die zwar auch immer wieder interessante Einzelphänomene bieten, für den Bereich Musik und Performance jedoch eher von nachrangiger Bedeutung sind. Drei Ausnahmen seien hier allerdings noch angeführt: Auf S. 304f führt er explizit einen Aspekt aus, der in der vorangegangenen Argumentation eher implizit präsent war, nämlich, dass Verknüpfungsstrategien nicht nur gleichzeitig auftreten können, sondern im Regelfall auch hierarchisch organisiert sind. "Symbolik baut auf Assoziation auf, diese wiederum auf Analogiebeziehungen." (S. 304) In Kapitel 3.4 beschäftigt er sich ausführlich mit der Visualisierung von Geräuschen und Musik sowohl mit Mitteln der bildenden Kunst, mit der technisch-physikalischen Darstellung als auch mit verschiedenen Möglichkeiten systematischer und intuitiver musikalischer Notation. Ebenfalls von Bedeutung und eine gute Abrundung des Buches stellt Kapitel 3.5 dar, das sich mit Grundlagen des Zusammenhangs von Wahrnehmung und Emotion beschäftigt.

Zusammenfassend besteht die Leistung des Buches darin, erstmals in einer griffigen Systematik einen Überblick über verschiedene Möglichkeiten des Zusammenspiels der Sinne zu bieten, der äußerst verschiedene Zugänge zum Thema – von der Naturwissenschaft bis zur Kunst – miteinander verknüpft. Dass an einigen Stellen für die Musiktheaterforschung interessante Aspekte ausgespart oder nur angerissen werden, kann angesichts des umfassenden Anspruchs sowie der speziellen Ausrichtung des Buches auf Designfragen nicht wirklich als Kritikpunkt gelten. Vielmehr erstaunt es angesichts dieser Ausrichtung schon fast, welch dominante Rolle Musik und Klang in dieser Arbeit spielen.

Auffallend und sicherlich vorteilhaft für einige musikwissenschaftliche Zugänge ist auch die prinzipielle Kompatibilität mit semiotischen Ansätzen, da die zentralen Teile des Modells starke Bezüge zur Pierce'schen Trias von Index (bzw. konkrete Assoziation), Ikon (bzw. intermodale Analogie) und Symbol (bzw. Symbol und Metapher) aufweisen. Allerdings stimmen die Konzepte nicht vollständig überein (S. 219f). Vorsicht ist in diesem Zusammenhang auch mit dem Terminus 'Ikon' geboten, da Haverkamp gelegentlich auch den Begriff der ikonischen Verknüpfung als Synonym für die konkrete Assoziation verwendet (z.B. S. 113).

Vorteilhaft für den Einstieg in dieses Gebiet erweist sich außerdem die klare Sprache Haverkamps, der keinen Fachterminus unerklärt im Raum stehen lässt. Dazu wird eine Fülle von Beispielen geliefert, welche die theoretischen Ausführungen prägnant und anschaulich untermauern. Dabei finden sich neben einer Vielzahl farbiger Illustrationen auch Tastseiten sowie eine beigefügte CD mit 90 Klangbeispielen. In Anbetracht dieser aufwändigen Gestaltung ist auch der zunächst etwas hoch erschei¬nende Preis von 99 € (für die gebundene Ausgabe) durchaus gerechtfertigt.

Ob am Ende tatsächlich das erklärte Ziel erreicht wurde, alle Möglichkeiten der Verknüpfung der Sinne zu erfassen, sei jedoch zukünftigen Forschungen auf dem Gebiet überlassen. Als Fazit lässt sich festhalten: Wer sich mit der Verbindung verschiedener Sinneseindrücke beschäftigt, für den bietet das Buch ein profundes Nachschlagewerk und nicht zuletzt auch ein gut handhabbares begriffliches Instrumentarium.

 


1 Albert Wellek hat bereits in den 1920er und 30er Jahren umfangreiche Forschungen zur synästhetischen Wahrnehmung betrieben, in denen er unter anderem seine Theorie der Ursynästhesien aufstellte. In der Musik ist dieses Thema zumindest implizit omnipräsent. Sehr intensiv operieren etwa Alexander Skrjabin und Alexander László mit ihren Versuchen zur Farb-Musik-Korrelation mit dieser Idee.

2 Es leitet sich aus der Wahrnehmung beziehungsweise  aus einer rauen Oberfläche nicht mit derselben Wahrscheinlichkeit der Eindruck eines rauen Klangs ab wie im umgekehrten Fall.

3 Vor 300 Jahren hätte beispielsweise niemand etwas mit dem Fahrgeräusch eines Autos anfangen, geschweige denn von seinem Ablauf auf Zustand und Aktivität des Motors schließen können.