Knut Holtsträter ist Assistent des Lehrstuhls für Theaterwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Musiktheaters an der Universität Bayreuth.

Heft 5

Improvisierte Musik analysieren und deuten

August 2014

ISSN 2191-253X

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Editorial 2014/5: Improvisierte Musik analysieren und deuten

von Knut Holtsträter

In der Auseinandersetzung mit improvisierter Musik stößt die herkömmliche Musikanalyse und Musikinterpretation an ihre (scheinbar natürlichen) Grenzen. Zunächst stellt in Teilen oder gänzlich improvisierte Musik den Werkcharakter von musikalisch-künstlerischem Ausdruck in Frage und damit auch die Werkästhetik sowie die handwerklichen und technischen Verfahrensweisen und Gesetzmäßig­keiten komponierter Musik, die sich in Schlagworten wie Struktur, Form, Gedanke und ästhetischen Prämissen wie Subjektivität, Ausdruck, Entwicklung äußern. Insofern findet sich die improvisierte Musik als 'Spielkultur' im wissenschaftlichen, ästhetischen und pädagogischen Diskurs in einer Konkurrenzsituation mit den Schriftkulturen der komponierten Musik wieder – eine Konkurrenzsituation, in der die Spielkultur aufgrund ihrer Schwierigkeiten musikalische Prozesse zu beschrei­ben dazu tendiert, marginalisiert und ausgegrenzt zu werden. Dabei ist die musikalische Improvisation oder die improvisierte Musik doch längst in unserer musikalischen Welt angekommen: Das Spektrum der improvisierten Musik innerhalb der westlichen Welt umfasst alle musikalischen Genres, freie Spielformen der Neuen Musik wie die so genannte Improvisierte Musik (mit großem "I"), den Jazz (Free Jazz oder Free Form Jazz) oder den Rock (Acid Rock, Krautrock, Jam Rock, Noise Rock). Sogar in den avantgardistischen Strömungen des Funk, Soul, Blues und Pop finden sich dezidiert ‚freie‘ Spielformen.

Es mag in gewisser Hinsicht für die Forschungslandschaft immer noch bezeichnend sein, dass die für das aktuelle Heft eingegangenen Beiträge sich mit Free bezie­hungsweise Avantgarde Jazz oder der Neuen Musik auseinandersetzen, also mit Musikstilen, die versuchen den Ansprüchen zu folgen, die ja die Musiken der Schriftkultur ausmachen: strukturelle Komplexität und musiksprachliche Avanciertheit. Durch die dezidierte Schwerpunktsetzung unserer Zeitschrift auf die performative Dimension von Musik sehen wir für den Bereich der improvisierten Musik die Chance, neue und dem ‚Gegenstand‘ angemessenere Analyse- und Inter­pretationsansätze zu finden, entsteht improvisierte Musik als ideeller Ausdruck nicht nur (wie alle Musik) bei der Aufführung sondern doch erst für und auf Grundlage der Aufführung. Dies könnte auch das Portfolio der bislang noch nicht beachteten Möglichkeiten der Analyse und Deutung erweitern. Geht man davon aus, dass der strukturanalytische Ansatz ein ideologisches Rudiment aus der als absolute Kunst verstandenen, komponierten Neuen Musik ist, dann stellt sich die Frage, ob man diese 'Ideologie' oder diesen 'Satz an Ideen' überhaupt für die Beschreibung und Deutung improvisierter Musik nutzen kann, die ja von ganz anderen 'Ideolo­gien' oder auch 'Ideensätzen' durchdrungen erscheint. Es ist zu fragen, inwiefern Ansätze aus der Ethnologie, der Soziologie, der Psychologie, der Physiologie und den Performance Studies dem Gegenstand der Improvisierten Musik näher kommen. Freilich würde das eine Verschiebung des Fokus' auf den Gegenstand bedeuten, und zwar vom klanglichen Resultat einer Handlung auf die Handlung selbst. Nicht die Struktur, Psychologie und Kultur einer Musik (im Sinne der globalisierten deutschen romantisch-modernen Musikästhetik, die ja sogar Wagners Musik von dessen Drama zu trennen versteht) würde nun im Mittelpunkt stehen, sondern die Struktur, Psychologie und Kultur des Musizierens in all seinen Implikationen (also im Sinne eines 'musicking', wie Christopher Small es postuliert) würde Zielpunkt des interessierten Beobachtens sein.[1] Damit rücken die Aufführungssituationen, die Körperlichkeit, die Räumlichkeit, die Narrative und sozialen Dramen, die Motiva­tionen, die Öffentlichkeitsmodi, die Dynamiken und Rahmensetzungen des musikalischen Handelns sowie die apparativen und kulturellen Techniken des Musizierens in den Vordergrund.[2] Ich bin davon überzeugt, dass die Besonderheit improvisierter Musik als einer Form des künstlerischen Ausdrucks gerade in diesen Vorbedingungen zu finden sind, welche nicht unbedingt von einem Autor vor- oder festgeschriebenen sein müssen, und dass diese Vorbedingungen das klangliche Resultat, die bei Improvisationen entsteht, nachhaltig prägen und beeinflussen. Die kompositorische Instanz infrage zu stellen bedeutet aber nicht, folglich auch den strukturanalytischen Ansatz der Neuen Musik-Ästhetik über Bord zu werfen. Denn letztendlich entwickelt auch Improvisierte Musik eine Struktur, aber sie entwickelt sich nicht unbedingt im Rahmen der Regelwerke der Komposition, sondern in denen des forschenden, ausprobierenden Spielens.

Insofern finde ich es sehr bereichernd, dass sich mit Richard Scott und Oliver Schwerdt zwei etablierte und konzertierende Improvisatoren zu dem Themenfeld äußern. Beide geben in unterschiedlicher Weise einen Einblick in verschiedene Spielkulturen der Improvisierten Musik und des Free Jazz. Floris Schuiling geht in seinem Beitrag von dieser Dichotomie zwischen Komposition und Improvisation aus und zeigt am Instant Composers Pool, wie dessen Musiker die aus dieser Konstellation resultierenden Konflikte kreativ nutzen.

Abgeschlossen wird dieses Heft wieder von einem nicht an das Heftthema gebunde­nen Rezensionsteil, bestehend aus Bernd Hobes Besprechung einer psychoanaly­tischen Werkinterpretation von Richard Wagner Ring des Nibelungen und Céline Kaisers Besprechung zweier Publikationen aus dem Bereich der Theaterpädagogik.

Anlässlich der letzten Ausgabe unter der Förderung der Deutschen Forschungs­gemeinschaft sei von mir als Herausgeber ein Dank an die Kräfte gerichtet, die bislang in dieser Zeitschrift noch keine Erwähnung fanden, ohne die aber diese und die anderen Ausgaben nie entstanden wären: Die bislang 20 Gutachterinnen und Gutachter, die der noch jungen Zeitschrift so viel Vertrauen entgegengebracht haben, dass sie ihre Expertise und ihre Zeit für die ehrenamtliche Tätigkeit zur Verfügung stellten. Auch angesichts der Tatsache, dass das Prinzip des Peer Reviews in den deutschsprach­igen Fachkreisen noch nicht so verbreitet ist, verdienen die hier Ungenannten einen besonderen Dank. Ebenso sei nochmals den studentischen Hilfskräften Lara Zickgraf und Steffen Klein gedankt, die während der Projekt­laufzeit bei der Konzeption der Zeitschrift und der Dokumentation der redaktionel­len Entwicklungsschritte eine wertvolle Hilfe waren. Den Heftherausgebern der bisher herausgegebenen Hefte (Anno Mungen, Melanie Fritsch, Sarah Mauksch und Wolf-Dieter Ernst) und der Hefte, die bereits in den Startlöchern stehen, sei an dieser Stelle ebenfalls gedankt. Die Zeitschrift wäre ohne ihre fachliche Expertise und ihren Einsatz, wenn es um das Finden von interessanten Heftschwerpunkten, die Akquise von Gutachtern und die Begleitung des Peer Review geht, um einige Facetten ärmer.

Ein besonderer, sehr herzlicher und warmer Dank gilt unserer Redakteurin der englischsprachigen Texte und Übersetzerin vom Deutschen ins Englische, Glenda Goss. Dank Ihrer Hilfe haben wir nicht nur die englischen Texte auf einem hohen Niveau halten können, sondern auch unsere deutschen Texte profitierten oft von ihrer Redaktion. Wir freuen uns sehr auf die weitere Zusammenarbeit.

Wir haben uns zu einigen Änderungen entschlossen, die einerseits aus dem Redaktionsalltag herrühren und andererseits dem Fortschritt der Internet­technologien Rechnung zollen: Aufgrund der geringen Zahl an Einsendungen von französischen und italienischen Beiträgen wird die Zeitschrift in Zukunft zwei­sprachig sein, was bedeutet, dass die Beiträge der Zeitschrift in Zukunft in Englisch oder Deutsch sein werden. Desweiteren hat sich die von der Redaktion gepflegte Rubrik der "Hinweise" für dieses Zeitschriften- bzw. Internetformat als nicht praktikabel erwiesen, wir werden sie mit diesem Heft einstellen. Zudem veröf­fentlichen wir die Beiträge und Rezensionen nur noch als PDF, eine Entscheidung, die der mittlerweile umfassenden Kompatibilität des PDF-Formats und der zunehmenden Vernetzung unserer Inhalte mit Volltextdatenbanken geschuldet ist. Die generelle Anmutung der Internetseite wird davon aber nur gering beeinflusst, die Teaser und die Abstracts zu den jeweiligen Beiträgen garantieren weiterhin die Möglichkeit unsere Zeitschrift zu durchstöbern.

 

Knut Holtsträter



[1]        Christopher Small, Musicking. The Meanings of Performing and Listening, Hanover 1998.

[2]       Als gelungene Beispiele solcher alternativer Ansätze hier nur ein paar empfehlenswerte Titel sehr unterschiedlicher Art in chrono­logischer Reihenfolge: Derek Bailey, Improvisation. Its Nature and Practice in Music, London 1992; Peter Niklas Wilson, Reduktion. Zur Aktualität einer musikalischen Strategie, Mainz 2003; David Borgo, Sync or swarm. Improvising Music in a Complex Age, New York und London 2005; Iain Anderson, This Is Our Music. Free Jazz, the Sixties, and American culture, Philadelphia 2007; Guerino B. Mazzola und Paul B. Cherlin, in Zusammenarbeit mit Mathias Rissi und Nathan Kennedy, Flow, Gesture, and Spaces in Free Jazz. Towards a Theory of Collaboration, Berlin u. Heidelberg 2009.