Barbara Barthelmes arbeitete als Musikwissenschaftlerin für das Netzwerk Neue Musik.

Heft 4

Ars Acustica – Audio Art – Klangkunst

Oktober 2012

ISSN 2191-253X

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Gebiete und Karten der neuen Musik erfahren. Über das Klangkunstprojekt sounding D

von Barbara Barthelmes

Zusammenfassung.

sounding D ist ein Klangkunstprojekt, das 2010 vom Netzwerk Neue Musik realisiert wurde. Die Arbeit zeichnet sich durch ihren speziellen Charakter von Ortsbestimmtheit aus. Der Klangzug sounding D, angelehnt an John Cages Il treno (1978), fuhr zwei Wochen durch Deutschland und richtete an 15 Stationen Zwischenstopps ein. In jedem Ort, dem per se eine individuelle Klanglichkeit anhaftet, wurden zahlreiche Klangkunstarbeiten oder Musikperformances organisiert. Die im Inneren des Zuges befindliche Klanginstallation Outside In (Blue) von Robin Minard und der während der Fahrt topografisch erschlossene Raum Deutschlands riefen spannende Wechselbeziehungen hervor. Das Ergebnis ist eine Kartografie der zeitgenössischen Musikszene in Deutschland.

 

Abstract.

Sounding D is a sound-art project, which was carried out in the year 2010 by the Netzwerk Neue Musik. The work is characterized by its special quality of site determination. The sounding D train, inspired by John Cage’s Il treno (1978), travelled for two weeks throughout Germany and set up at 15 stations along the way. In each place, in which an individual sonority per se adheres, numerous sound-art works or musical performances were organized. The sound installation located inside the train, Outside In (Blue) by Robin Minard, evoked exciting correlations vis-à-vis Germany’s topographically open spaces during the journey. The result is a map of the contemporary music scene in Germany.

 

Das vom Netzwerk Neue Musik im Sommer 20101 realisierte Klangkunstprojekt sounding D war in seiner Konzeption ortsspezifisch und bezog sich auf den öffentlichen Raum. Dessen Dimension definierte sich durch die Städte und Regionen, die als Bestandteil des bundesweiten Netzwerks aktiviert worden waren. Diese steckten auch den geografische Raum ab, in dem sich die Route des sounding D-Zuges spiralförmig durch das Land zog: Von Dresden aus fuhr der Klangzug zuerst über Berlin nach Norden über Hamburg nach Kiel. Auf seinem Weg in Richtung Westen wurde die Region Niedersachsen durchquert mit Haltestellen in Oldenburg und Göttingen. Im Westen markierten dann die Städte Essen, Moers, Köln, Mainz, Neuwied und als äußerster Grenzpunkt die Stadt Saarbrücken die nächsten Etappen. Von da aus ging es weiter nach Freiburg, Leonberg, Stuttgart, Göppingen im Südwesten und im Süden Augsburg und Passau. In jeder Stadt, vor Ort, löste der Zug eine Reihe von Musik-Events aus: Musikperformances, klangkünstlerische Interventionen im Stadtraum und Konzertveranstaltungen. Mit Eisenach, dem geografischen Mittelpunkt Deutschlands, hatte der sounding D-Zug das Ziel seiner Reise erreicht. Dort wurde das Ende der Fahrt durch Deutschland mit einem dreitägigen Festival, das den Titel mittenDrin trug, gefeiert. Dieser so topogra-fisch/geografisch abgemessene Raum wurde durch den sounding D-Zug im Moment seiner Fahrt vor allem als ein spezifischer Klang- und Kulturraum hervorgebracht, indem er einen permanenten Klangstoffwechsel zwischen den Klanglandschaften der Halteorte außen, den dort ansässigen Neue Musik-Szenen und der Klanginstallation Outside In (Blue) von Robin Minard im Innern des Zuges stattfinden ließ und somit Karte und Gebiet der zeitgenössischen Musik zum Vorschein brachte.

 

Interface zwischen Klangraum und Klanglandschaft

Vorbild für den sounding D-Zug war Il treno. Alla Ricerca del silenzio perduto von John Cage, ebenfalls ein Klangzug, der 1978 in Italien drei Fahrten von Bologna aus unternahm. Auch John Cage sah einen Austausch zwischen den Klängen aus dem Zug und denen der durchfahrenen Landschaft vor. Über Mikrophone und Lautsprecher innen und außen am Zug konnten aufgenommene Klänge von Außen nach Innen übertragen werden und umgekehrt.2 Eine Neuauflage von Il treno fand 2004 statt, auf der Strecke von Göttingen nach Kassel, initiiert von dem Schweizer Komponisten Daniel Ott.3 Für sounding D wurde allerdings das Il treno-Konzept nicht einfach in einen größeren Maßstab übertragen. Der kanadische Klangkünstler und Komponist Robin Minard4 entwickelte dafür ein eigenes künstlerisches Konzept, das von den Erfahrungen des Netzwerk Neue Musik ausging (siehe dazu den Abschnitt Stadt-Land-Google Maps).

Der Zug selbst bestand außer aus der Lokomotive noch aus drei weiteren Wagons (siehe Abb. 1), denen jeweils drei verschiedene Funktionen zukamen: dem Aufnahmewagon, in dem nicht nur Informationen in Ton und Bild über das Netzwerk wie auch über sounding D zu sehen und zu hören waren. In ihm fanden auch Workshops an den Halteorten statt und von ihm ausgehend wurde die Klanginstallation Minards Outside In (Blue) mit neuen Klängen versorgt.

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Abb. 1: Der sounding D-Zug fährt in den Dresdner Hauptbahnhof ein. Foto: Sven Gottschall. © Netzwerk Neue Musik.

 

Dann folgte als zweiter Wagon der Wiedergabewagon, in dem sich die Klanginstallation Outside In (Blue) befand. Der dritte Wagen, der Pausewagon beherbergte zur einen Hälfte die so genannten Hörabteile, und zur anderen Hälfte stand er der mitreisenden Crew wie dem technischen Equipment und Gepäck zur Verfügung. Die Wagons waren außen entsprechend ihrer Funktion mit den Zeichen für Aufnahme, Pause und Wiedergabe gekennzeichnet (siehe Abb. 2 und 3).

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Abb. 2 und 3: sounding D-Zug, Wagons, Details. Foto: Sven Gottschall. © Netzwerk Neue Musik.

 

Zentral für den Zug sowie für das gesamte Projekt war die Klanginstallation Minards Outside In (Blue). Sie wurde in einen 26 Meter langen Zugwagon, der zuvor als Disco-Wagon genutzt worden war, implementiert. Mit dessen Um- und Ausbau begann die Metamorphose dieses einfachen Containerraums in ein Instrument, das nicht nur den sounding D repräsentierenden Klangraum im Zug hervorbrachte, sondern auch die verschiedenen, durch Klang definierten topografischen Räume miteinander agieren ließ und in einen Zusammenhang brachte. In einem ersten Schritt wurde der Wagon bis auf alle konstruktiven Teile entkernt und komplett weiß gestrichen. Die Fenster wurden mit einer blauen Spezialfolie verklebt – dem Blau, das für viele Arbeiten Minards typisch ist. Dadurch wurde das Tageslicht gefiltert und der weiße Innenraum in ein diffuses blaues Licht getaucht, das sich je nach Lichteinfall von außen in Abhängigkeit von Tageszeit, Wetter und Standort in Nuancen veränderte (siehe Abb. 4  und 5).

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Abb. 4 und 5: Robin Minard, Klanginstallation Outside In (Blue), Innenansichten. Foto: Sven Gottschall. © Netzwerk Neue Musik.

 

Zunächst hat Minard die instrumentalen Qualitäten des Wagons bestimmt, sprich die Resonanzfrequenzen des leeren Wagons analysiert und berechnet. Zusammen mit den charakteristischen Eigenschaften des Raumes, seinen Maßen, seiner Form, seiner Materialität, bilden seine Eigenschwingungen, die Art und Weise wie in ihm Schall repandiert wird, wie Reflexion, Interferenz, Hall und Absorption beschaffen sind, die Größen, die den Raum akustisch definieren. Über diese raumakustischen Eigenschaften wurde der reale Raum des Wagons in eine Art musikalisches Instrument transformiert. Robin Minard hat sie in seiner Raumkomposition als Filter benutzt.5

Eine weitere Voraussetzung für die Transformation des Wagons in ein Klang-Raum-Instrument war die Installation von Lautsprechern. In diesem Fall waren dies Lautsprecher, die am Frauenhofer Institut für Digitale Medientechnologie in Ilmenau entwickelt worden waren und in einer prototypischen Form in der Installation im Zug zum Einsatz kamen: Es handelte sich dabei um Panels, in die, Platz sparend und in zurückhaltendem Design, jeweils ein ganzes Set von kleinen und sehr flachen elektrodynamischen Miniwandlern eingesetzt sind (siehe Abb. 6).

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Abb. 6: Robin Minard, Klanginstallation Outside In (Blue), Lautsprecherpanel. Foto: Sven Gottschall. © Netzwerk Neue Musik.

 

Im Zug baute Minard ein ganzes Band bestehend aus solchen Panels ein und zwar von einer Seite zur anderen, beginnend an der Schmalseite am Boden, dann aufstei gend und über die ganze Länge an der Decke hin zur anderen Schmalseite.

Das Klangmaterial für Outside In (Blue) bezog Minard zum einen aus Ausschnitten diverser Schlüsselwerken der neuen Musik und zum anderen aus Feldaufnahmen von den Hörpunkten aus den 15 Städten, in denen vom Netzwerk geförderte Projekte aktiv waren und der Zug auch gehalten hat. In jeder Stadt wurden Hörpunkte oder „Hörenswürdigkeiten“6 – jeweils 15 – eruiert, die die jeweilige Klanglandschaft des Ortes repräsentierten. Die Raumkomposition Minards baute sich aus verschiedenen Schichten auf, denen er verschiedene Aufgaben zuweist. Mit der Berechnung der Eigenfrequenz gewinnt er dabei einen Faktor, mit dem er weiteres Klangmaterial steuern und manipulieren kann in Abhängigkeit vom gegebenen realen Raumkörper. Zunächst „konditionierte“ er den Raum, das heißt er stellt eine einheitliche Atmosphäre dar, die sich ähnlich wie Licht in ihrem Chroma ändern kann. Sie korrelierte mit der farblichen Eintönung des Raumes in Blau. Dafür benutzte er die Ausschnitte neuer Musik, die durch Verschiebungen ihres Audiospektrums und durch Resonanzfilter stark verformt waren. Dadurch bewirkte er langsame Veränderungen der Klangfarben, die den Installationsraum klanglich charakterisierten und auskleideten. Was die nächste Schicht betraf, so spricht Robin Minard hier von der „Artikulation des Raumes“7. Dieser Prozess ist vergleichbar mit dem Auskleiden von Räumen mit Ornamenten oder Muster, die man auf Tapeten in Fresken oder an Mauerfriesen findet. Mit diesem Verfahren zeichnet Minard spezifische Muster in einen bereits vorhandenen Klangteppich ein. In der Installation übernahmen die Auszüge aus den Feldaufnahmen aus den Städten die Artikulation des Installationsraums. Sie waren sowohl in originaler als auch in bearbeiteter Form zu hören und unterlagen einer permanenten Veränderung, da der Innenraum immer wieder von Außen durch neue, während der Zugreise gesammelte, Aufnahmen aufgefüllt wurde.

Outside In (Blue) war sowohl ein autonomer, in sich geschlossener Klangraum, ein zum Klingen gebrachten Containerraum als auch ein offener Klangraum, der sich unter dem Einfluss der äußeren Klanglandschaften der Orte, die auf der Route des Zuges lagen, permanent wandelte. Die Vorstellung von Raum jedoch, die das Konzept der Soundscapes beziehungsweise Klanglandschaften organisiert, ist nicht mehr der neutrale Behälterraum wie es der Zugwagon darstellte. Vielmehr handelt es sich um einen relationalen Raum, der sich durch den Akt der Wahrnehmung, das Betrachten wie das Hören konstituiert. Dieser bestimmt sowohl den Rahmen, den Ausschnitt als auch die Objekte und setzt sie in Beziehung zueinander.8 Landschaft wird nicht unbedingt als etwas Gegebenes aufgefasst, sondern als eine bestimmte Art und Weise, die Welt und die Umwelt zu betrachten. Es ist der Betrachter oder der Hörer, der die einzelnen Elemente in ein Ganzes fügt und integriert; ihnen innerhalb eines Rahmens einen bestimmten Ort zuweist. Landschaft oder Klanglandschaft wird somit zu einer rhetorischen Figur oder eine Geste, die dem „Ocean of Sound“9 Fragmente entnimmt und sie durch Rahmung hervorhebt. Um eine Klanglandschaft zum Vorschein zu bringen, bedarf es bestimmter Strategien, wie dem Abhören und Erforschen von akustischen Situationen, Orten und ihren Kontexten wie es unter anderem die Tradition der Soundwalks oder des Field recording ausgebildet hat. Für sounding D haben sowohl Komponisten, Klangkünstler und Klangforscher als auch die Bewohner der Städte selbst nach solchen Hörpunkten beziehungsweise nach Orten mit charakteristischen Klängen gesucht, die ihnen als akustische Repräsentation ihrer Stadt geeignet erschienen (siehe Abb. 7). Diese Klänge an diesen Hörpunkten wurden aufgenommen, um in den Zug bei seinem Halt in der jeweiligen Stadt eingespeist zu werden.

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Abb. 7: Der Klangkünstler Ludger Hennig bei der Aufnahme des Klanges des Gänselieselbrunnens in Göttingen. Foto und ©: Nils König.

 

Als überdimensionierter Tonabnehmer nahm der Klangzug auf seinem Weg sukzessive die vielen Fragmente der durchquerten Klanglandschaften in sich auf und hat sie, durch die Komposition Minards sozusagen ‚verdaut‘, in seinen mobilen Klangraum projiziert.

 

D sounding – die Hörräume

Der sounding D-Zug bildete somit nicht nur eine Schnittstelle unterschiedlicher Raumkonzeptionen, er generierte auch unterschiedliche Wahrnehmungsmodi. Vor Ort, in den Städten waren die Hörpunkte zudem durch ihre Geodaten erfasst und in Karten eingezeichnet worden. Sie stellten auf den jeweiligen Ort bezogene Soundwalks (siehe Abb. 8) dar, die demjenigen, der ihrer Spur folgte, eine ganz andere Erfahrung der Stadt ermöglichte und das immer noch tut.

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Abb. 8: sounding D-vorOrt, Momentaufnahme aus dem Soundwalk in Augsburg. Foto und ©: Mariko Junge.

 

Direkt, unbearbeitet und unvermittelt dringt während eines Soundwalks der Klang eines bestimmten Ortes an das Ohr. Moduliert und beeinflusst wird er nur durch die jeweils vorherrschende bauliche Situation und durch das akustische Environment, in das er eingebettet ist. Die Installation im Zug, in die die Klänge dieser Hörpunkte eingespeist worden waren, konnte man ‚live‘ nur in den Bahnhöfen aufsuchen und erleben, in denen ein Aufenthalt des Zuges vorgesehen war (siehe Abb. 9).

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Abb. 9: sounding D-vorOrt, Besucher im Berliner Hauptbahnhof vor dem Eingang in die Klanginstallation Outside in (blue). Foto: Astrid Karger. © Netzwerk Neue Musik.

 

Sie repräsentierte anders als die Klanglandschaften des Alltags in den Soundwalks einen vom geschäftigen Treiben des Durchgangsortes Bahnhof herausgehobenen Wahrnehmungsraum. Der Besucher ist dort sofort ganz von Klang umgeben und von der dort inszenierten Atmosphäre gefangen. Während des Soundwalking fokussiert man das Ohr und versucht die einen Ort bestimmenden Klänge aus dem oft aufdringlichen akustischen Kontext herauszuhören und zu identifizieren. Die Klanginstallation Outside In (Blue) löste dagegen eine Hörhaltung aus, die sich dem leisen unaufdringlichen Klangfluss, den sich kontinuierlich vollziehenden klanglichen Veränderungen und kaum merklichen Klangereignissen aufmerksam und gleichzeitig entspannt zuwendet. Erst nach längerem Verweilen öffnet sich der Klangraum dem Hörer auch als mnemotechnischer Spielraum, in dem Klänge mit erkennbarer Kontur auftauchen, die man identifizieren kann, aber auch solche, die diffus und unbestimmt bleiben und sich beim Hören mit der Erinnerung an schon Gehörtes verbinden.

Neben dem Hörraum, der Klanglandschaft Stadt und dem intimen Klangraum der Klanginstallation war das Projekt sounding D noch im Datenraum des Internet verankert. Auf der für sounding D eingerichteten Website war die gesamte Reiseroute auf der Basis von Google Maps kartografiert worden. Die Internet-Präsenz des sounding D-Zuges erfordert wieder einen anderen Modus des Hörens. In diesem immateriellen Raum wird das Projekt als ganzes sichtbar: Bewusst die Ästhetik von Google Maps aufgreifend, entfaltet sich eine Klangskulptur, die den spiralförmigen Weg des Zuges von Ort zu Ort nachzeichnet, die verzweigte Struktur der Hörspaziergänge im Zoom heranholt und auch den einzelnen Hörpunkt visuell und akustisch dem User – im wörtlichen Sinn – so nah bringt, dass der Eindruck der unmittelbaren Teilhabe entsteht. Tatsächlich ist nur aus dieser Perspektive das gesamte Netz aus 15 Projektorten und 225 Hörpunkten in jedem Detail gleichzeitig sichtbar und hörbar. Nur der virtuelle Raum des Internets ermöglicht es, den tatsächlichen chronologischen Verlauf des Zuges zu ignorieren und spielerisch die klingenden Hörpunkte miteinander zu kombinieren und einen eigenen Sound von sounding D zu entwerfen.

 

Stadt – Land – Google Maps

Mit sounding D sollte auch eine Aussage über die neue Musik in Deutschland artikuliert werden. Die Gründe, Klangkunst sozusagen für ein bestimmtes Interesse in Dienst zu nehmen, lagen in der Konzeption des Förderprojektes Netzwerk Neue Musik und in den Erfahrungen, die in dem einzigartigen Verbund von 15 Netzwerken mit 255 Partnern innerhalb des Förderzeitraums von 2008 bis 2011 gemacht werden konnten. Das Projekt Netzwerk Neue Musik ging auf die Initiative der Kulturstiftung des Bundes zurück, die sich der Förderung der zeitgenössischen Musik mit einem Konzept annehmen wollte, das sich von dem traditioneller Kunstförderung unterschied. Es setzte einen deutlichen Schwerpunkt auf die Ausbildung von Kooperationsstrukturen (Netzwerken) und auf die nachhaltige Verankerung derselben in vorhandene kulturelle Kontexte.10

Diese andere Art des Förderkonzepts, nämlich primär eine Struktur bildende Maßnahme zu sein, führte auch dazu, das Besondere der neuen Musik in Deutschland nicht in Debatten über den Avantgarde-Status der Musik, über neue Gattungen und ästhetische Strategien, in der Entdeckung noch nie gehörter Musik und ihrer Analyse festzuschreiben, sondern vielmehr in ihrer Fülle, ihre Vielfalt und Komplexität, sowie in der Art und Weise, wie sie sich in der bestehenden Musikkultur organisiert und einbettet. Das Projekt Netzwerk übernahm in diesem Zusammenhang die Funktion eines Rahmens, der einen durchaus repräsentativen Ausschnitt aus der Neue Musik-Landschaft Deutschlands umfasste und dadurch seine Spezifik erkennen und beschreiben ließ: An der neuen Musik und ihrer Vermittlung sind viele unterschiedliche Akteure beteiligt, professionelle Musiker aus großen Orchestern, aus Spezialisten-Ensembles, Laien-Ensembles, Musikpädagogen, Kuratoren, Publizisten, Wissenschaftler. Sie wird sowohl von staatlichen Institutionen getragen, den verschiedenen Bildungsinstanzen wie den künstlerischen Hochschulen, den Musikschulen und den allgemeinbildenden Schulen, Theatern, den Verwaltungen in den Städten und Ländern als auch von der großen ‚Armee‘ der freien Initiativen und Gruppierungen. Die neue Musik in Deutschland ist regional und lokal verankert – eine Konsequenz der föderalen Struktur – und keine alleinige Angelegenheit der so genannten Leuchttürme. Und die neue Musik ist, so wie sie in Deutschland praktiziert wird, in sich heterogen und keinem einheitlichen oder einseitig dominanten ästhetischen Paradigma verpflichtet.

Die Konzeption und die Entwicklung von sounding D in seiner dreiteiligen Struktur mit dem sounding D-Zug, mit den 15 Festivals mit ihren bunten Programmen vor Ort und dem dreitägigen Abschluss mittenDrin in Eisenach wurde, sollte darauf abzielen, diese blühende Binnenlandschaft unseres Musiklebens in ein klingendes Bild zu übersetzen. Das Netzwerk Neue Musik sollte erkennbar werden und zwar als Ganzes wie auch in seiner komplexen feinteiligen Struktur und damit die Fülle und Lebendigkeit der unterschiedlichen Szenen neuer Musik. Das Projekt sounding D war also darauf aus, die Neue Musik in Deutschland zu lokalisieren und ihre unterschiedlichen Spielräume sichtbar werden zu lassen. Dabei wurde auf verschiedene Strategien der Klangkunst zurückgegriffen, um den Wahrnehmungskorridor für diese zeitgenössische Musikpraxis zu öffnen: auf einen erweiterten Musikbegriff, auf die klangliche Aktivierung des öffentlichen Raumes und auf die Vermittlung der Ortsspezifik der neuen Musik, die sich in Deutschland in einer Pluralität sehr unterschiedlicher lokal und regional verankerter Szenen entfaltet. Diese Topografie der Neuen-Musik-Landschaft so wie sie sich im Netzwerk Neue Musik darstellte, sollte zum Vorschein kommen und zwar klanglich und visuell – als ein Klangbild. Aus diesem Grund spielen Karten unterschiedlichster Art in der Darstellung des Projektes eine wichtige Rolle.

Da ist zunächst die Karte, die die Route des Zuges zeigt und während des Projekts auch überall auf Bannern, Flyern und in Programmbüchern präsent war (siehe Abb. 10). Auf farbigem Grund zeichnet eine feine Linie in schwungvollem Strich die Bewegung des Zuges nach, die in Dresden ansetzt und sich in spiralförmigen Bogen über die ganze Fläche nach Eisenach, in die Mitte Deutschlands einrollt.

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Abb.10: Route des sounding D-Zuges, abgebildet auf einem Banner. © Netzwerk Neue Musik.

 

Die Städtenamen der einzelnen Haltestellen sind klingend, im Sinne einer Lautpoesie interpretiert. Die nicht sichtbare Vorlage, in die sich die Zugroute einschreibt, ist sowohl die topografische als auch die politische Landkarte Deutschlands. Etliche Leerstellen und nicht markierte Zwischenräume sind auf der sounding D-Karte zu erkennen. Beispielsweise taucht Leipzig, das zwischen Eisenach und Berlin liegt, nicht auf. Auch Hessen mit seiner Metropole Frankfurt ist ausgespart wie viele andere Landstriche und Orte, in denen ebenfalls Neue Musik-Szenen aktiv sind. Die sounding D-Karte vermisst eben die Deutschlandkarte nicht vollständig, nur bestimmte Landstriche – das allerdings mit dem Anspruch repräsentativ zu sein. Auch vorOrt, im Kontext der Veranstaltungen der Netzwerkprojekte, die diese für ihren sounding D-Tag gestaltet haben, traf der Besucher auf Karten. Und zwar auf Stadtpläne mit ihrem typischen Netz aus Straßen, Flussläufen und markanten Knotenpunkten, in die die Hörpunkte eingezeichnet sind (siehe Abb. 11).

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Abb. 11: sounding D-vorOrt, Karte des Soundwalk in Augsburg. © Netzwerk Neue Musik.

 

Für jede der 15 Städte sind es 15 typische Klänge oder ‚Hörenswürdigkeiten‘, die das klangliche Profil der Stadt – ihren Soundscape – bestimmen. Hier wird ein spezifischer Nachteil von Karten – ihr statischer Charakter – deutlich. Denn zu einem Soundwalk fügen sich die Hörpunkte erst in der Auswahl des Hörers, der sich individuell seinen Walk durch die Stadt zusammenstellt. In dem tatsächlichen Ablaufen der Hörpunkte bildet sich die Route erst in ihrem Vollzug. Dies gilt auch für die Veranstaltungsprogramme vor Ort. Einem aufmerksamen Besucher enthüllte sich dort ebenfalls eine weitere raumgreifende Choreografie, über die die Besucher und Hörer fast in jeder Stadt bewegt wurden. Nach dem musikalischen Empfang des Zuges im Bahnhof zog die Neue Musik tagsüber in die Stadt, nicht ohne an den typischen Plätzen und Orten zu verweilen und musikalisch zu intervenieren: In Kiel zum Beispiel an der Hörn, in Köln am Wallrafplatz, in Neuwied auf dem Schlossplatz usw., um sich für das Konzert am Abend in einem geschlossenen Raum – ob Konzertsaal, Museum oder ausgediente Lokhalle – einzufinden.

Auch das Abschlussfestival in Eisenach – sounding D-mittenDrin war ortsspezifisch konzipiert und das in mehrfacher Hinsicht. Da ist zunächst die Landschaft um Eisenach in ihrer geografisch-kulturellen Eigenheit wie auch die Physiognomie der Stadt mit der Wartburg, dem Bachhaus, der Bachkirche, dem Stadtschloss. Sie bildeten Ausgangs- und Bezugspunkte für die Klangexpeditionen, für die landschafts- und ortsbezogenen Kompositionen, die der Komponist Daniel Ott gemeinsam mit den Klangkünstlern Kirsten Reese, Erwin Stache, Zoro Babel, Sebastian Quack und Enrico Stolzenburg entwickelte. Mit präparierten Fahrrädern, Klangschuhen, auf Kanus und Booten erschlossen sich Musiker in einer Klangexpedition das Umland von Eisenach, bezogen Verlauf und Beschaffenheit der Wege in ihre Komposition mit ein und traten in einen Dialog mit dem dort vorhanden Umweltklängen. In einer weiteren Expedition und Klangaktion wurden der Weg von der Innenstadt Eisenachs auf die Wartburg und des Wartburgbergs selbst zum Klingen gebracht. Und zum Schluss bildet die Innenstadt von Eisenach den Schauplatz eines labyrinthischen StadtRundKlangs. Auch die auf die Klangexpeditionen folgenden, in sie wie Intarsien eingelagerten Konzerte knüpften an die kulturgeschichtliche Spezifik des Ortes an: Die Neue Musik begibt sich in Eisenach genau an die Orte, die sich eher der Pflege der Musik Bachs, Telemanns, des Barocks und überhaupt oder des Werkekanons der Musikgeschichte verschrieben hat.

Und auch hier sind es Karten, die die ortsspezifische Konzeption des Abschlussfestivals mittenDrin in Eisenach markieren. Mit einer Wanderkarte vergleichbar, zeichnen sie den Weg nach, den die Klangexpedition11 Daniel Otts und seines Teams nehmen sollte, von dem Marktplatz vor der Georgenkirche in einem großen Bogen durch das Gelände der näheren Umgebung Eisenachs wieder dorthin zurück. Eine weitere Karte kennzeichnete das Areal des Wartburgberges für die Konzertinstallation Der klingende Berg12 (ebenfalls vom Komponistenteam um Daniel Ott) unter freiem Himmel, wo für einige Stunden der geschichts- und mythenträchtige Berg von Klanglinien durchzogen und Klangterritorien eingeteilt worden war. Und die vier Klangfelder oder Spielräume des StadtRundKlangs13 der Elemente von Computer- und Konsolenspielen auf den realen Raum der Eisenacher Innenstadt übertrug, wurden ebenfalls in einen Stadtplan der Innenstadt Eisenachs eingetragen.

Auch in Eisenach bewegte eine Binnenchoreografie das Publikum vom Freien in geschlossene Räume, in den stillen von religiösen Ritualen (und der Aura Johann Sebastian Bachs) geprägten Raum der Georgenkirche, in das festliche Ambiente des Stadtschlosses und des Stadttheaters oder in die historisierende Atmosphäre des großen Wartburgsaales.

Während diese Karten inzwischen den Status von Dokumenten einnehmen, ist das Projekt im immateriellen Raum des Internets14 bis heute präsent. In der Klanginstallation Outside In (Blue) wurden diese durch die Karten repräsentierten Klangräume quasi verflüssigt und in Beziehung zueinander gebracht. Durch seine Fahrt von einem Ort zum anderen hat der Zug die Projekte des Netzwerks real miteinander verbunden. Stellvertretend für die Projekte und ihre Orte flossen die Hörpunkteklänge aus den Städten als Klangmaterial von außen in die Raumkomposition mit ein.

 

Kartografische Imaginationen15

Was bedeutet das Mapping in diesem Kontext? Nun, die Kartierung ermöglicht zunächst einen Überblick. In unserem Fall über das Netzwerk als Ganzes, seine Lokalisierung in einzelnen Orten, seine Verdichtung in Ballungsräumen wie seine Verteilung in den bestimmten Regionen. Und als ein Supplement des musikalischen Gesamtprogramms betrachtet, erzählt die musikalische ‚Vermessung‘ von der Ortsspezifik, von dem Neue Musik-Profil eines jeden Projektes, einer jeden Musikszene. Jede Stadt klingt anders, so wie es das Bild der Karte mit seinen lautmalerisch umschriebenen Ortsnamen nahelegt.

Des Weiteren ist der Kartografie ein Denken in Territorien immanent. Das heißt, Karten sind nicht nur zweidimensionale Spiegel von Landschaften und der darin angegebenen Lage von Orten, Flüssen und Gebirgen, sondern stecken Territorien ab und formulieren Ansprüche auf solche. Das Denken in Territorien ist im Kontext der neuen Musik so fremd nicht. Es liegt letzten Endes all den Äußerungen zugrunde, die die neue Musik am Rand des Musiklebens positionieren und von ihrem Insel- oder Enklaven-Dasein sprechen. Doch selbst wenn sich die neue Musik nicht, was ihre Anhänger betrifft, mit den massen-kulturellen Phänomenen messen kann, ist sie längst kein vollständig abgeschlossenes Gebiet mehr, das über keine Zugänge zu anderen Territorien und Ländern verfügt. Nicht nur auf ästhetischem Gebiet hat sie territoriale Abgrenzungen hinter sich gelassen, wie nicht nur die Gattung Klangkunst beweist. Sie spielt mit im Bereich kultureller Bildung und laboriert wie die anderen Player auch an den dort virulenten Problemstellen, wie die vielen Education-Projekte innerhalb und außerhalb des Netzwerks zeigen. Sie behauptet ihre Präsenz in allen Bildungsinstanzen oder beansprucht sie zumindest, angefangen von der musikalischen Früherziehung, über die städtischen Musikschulen bis hin zu den Musikhochschulen. Und mit vielen institutionellen Trägern des Musiklebens sind ihre Akteure fruchtbare Partnerschaften eingegangen.

Zum Schluss: Karten haben indexikalischen Charakter. Jeder in ihnen verzeichnete Punkt kann auch als ein Zeichen gelesen werden, das auf einen realen, mess- und erfahrbaren Ort oder Raum verweist und auf diesen zurückgeführt werden kann. Im Kontext neuer sogenannter lokativer Medien wie den Mobiltelefonen oder dem Global Positioning System ist diese Spezifik von Karten als eine Beziehung zwischen den realem und virtuellem Raum formuliert und von den Locative Arts, zu denen auch die Soundmaps gezählt werden können, aufgegriffen worden. sounding D sollte zeigen, wie sich die neue Musik in die Kulturlandschaft Deutschlands einschreibt, in die der Städte, der Regionen, in den Alltag der Menschen. Das Bild der Enklave taugte dafür nicht. Entscheidend ist für sounding D gewesen, die neue Musik wieder an den realen Raum angebunden und aus ihrer vermeintlichen Enklave heraus geholt zu haben, zumindest symbolisch. Jedem Punkt auf der sounding D-Karte entspricht ein realer Klang, ein realer Ort, an dem neue Musik erklingt oder gemacht wird. Nicht ästhetische Kategorien erklären diesmal die neue Musik, sondern das Territorium und der Raum, die sie im allgemeinen Musikleben beansprucht und bespielt.

 


 

1 Das Netzwerk Neue Musik war 2006 von der Kulturstiftung des Bundes initiiert worden. Für die Dauer von vier Jahren, von 2008 bis 2011 wurden 15 Projekte in 15 verschiedenen Städten bzw. Regionen Deutschlands gefördert. In diesem Kontext fand vom 25.8.–12.9.2010 bundesweit das in sich dreiteilige Projekt sounding D – sounding D-Zug, sounding D-vorOrt und sounding D-mittenDrin – statt, das gemeinsam vom Projektbüro des Netzwerks und seinen Projektpartnern durchgeführt wurde. Weitere Informationen zum Netzwerk Neue Musik unter http://www.netzwerkneuemusik.de und zu sounding D unter http://www.sounding-D.netzwerkneuemusik.de (Zugriff: 24.09.2012).

2 Eine Schilderung des Zugprojekts von John Cage findet sich in: Daniel Charles, John Cage oder die Musik ist los, Berlin 1979, S. 9–38.

3 Diese Neuauflage wurde realisiert im Rahmen des Festivals Experiment Geschwindigkeit 2004. Im selben Jahr konnte man auch auf den World New Music Days in der Schweiz einen Klangzug erleben. Informationen über Daniel Ott unter http://www.danielott.com (Zugriff: 24.09.2012).

4 Die Idee, einen Klangzug auf Tour durch die Projektorte des Netzwerks zu schicken, ging vom Netzwerk Neue Musik selbst aus. Das künstlerische Konzept des Zuges, eingebettet in die Soundwalks mit ihren Hörpunkten vor Ort sowie die Gestalt des Projekts im Internet hat Robin Minard in enger Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Neue Musik entwickelt und produziert. Informationen zu Robin Minard unter http://www.robinminard.com (Zugriff: 24.09.2012).

5 Robin Minard, „Outside In (Blue). Eine Installation für den sounding D-Zug“, in: sounding D. Gesamtprogramm, hrg. vom Netzwerk Neue Musik, o.A. 2010, S. 16f.

6 R. Murray Schafer spricht sowohl von "Hörenswürdigkeiten" als auch von "soundmarks" (in der deutschen Übersetzung "Lautmarken") und beschreibt damit besonders auffällige und für ein bestimmtes Soziotop oder Umgebung charakteristische Klänge. R. Murray Schafer, Die Ordnung der Dinge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Mainz 2012, S. 347 und S. 386f.

7 Robin Minard selbst hat diese Begriffe eingeführt. Robin Minard, Klangwelten. Musik für den öffentlichen Raum, Akademie der Künste Berlin, Berlin 1993, S. 37–67 und ders. „Klanginstallation. Neue Wirklichkeiten schaffen“, in: Robin Minard, Silent Music. Zwischen Klangkunst und Akustik-Design, hrg. von Bernd Schulz, Heidelberg 1999, S. 59–81.

8 Zur Diskussion über den Landschaftsbegriffs: Werner Flach, „Landschaft. Die Fundamente der Landschaftsvorstellung“, in: Landschaft, hrg. von Manfred Smuda, Frankfurt am Main 1986, S. 11 ff und Eckhard Lobsien, Art. „Landschaft“, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3, hrg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart 2001, S. 617–665.

9 Ocean of Sound lautet der Titel eines Buches des britischen Musikers und Musikschriftstellers David Toop, das 1997 in der deutschen Übersetzung von Diedrich Diederichsen in St. Andrä-Wörten, Österreich erschienen ist. „Ocean of Sound“ ist hier im Sinne einer Metapher gebraucht für die Gesamtheit der uns umgebenden und auf uns einströmenden Musiken und Klänge.

10 Informationen zum Profil des Förderkonzepts unter http://www.netzwerkneuemusik.de, Menüpunkt „Initiieren“ (Zugriff: 24.09.2012).

11 Eine Abbildung der Karte befindet sich unter http://www.sounding-d.netzwerkneuemusik.de/images/stories/PDFs/mittenDrin_programm_web.pdf (Zugriff: 24.09.2012).

12 Siehe Anm. 11.

13 Siehe Anm. 11.

14 Informationen dazu unter http://www.sounding-d.netzwerkneuemusik.de (Zugriff: 24.09.2012).

15 Jörg Dünne, „Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums“, in: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hrg. von Jörg Döring und Tristan Thielmann, Bielefeld 2009, S. 49–69.