Dominik Frank war von 2013-2016 Teil des Forschungsprojekts zur Geschichte der Bayerischen Staatsoper 1933-1963 und ist seit Dezember 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Musiktheater Thurnau. Daneben arbeitet er als Regisseur, Theaterpädagoge und Referent an der KZ-Gedenkstätte Dachau.

Der Historiker Daniel Reupke arbeitet derzeit in dem interdisziplinären Projekt "Inszenierung von Macht und Unterhaltung – Propaganda und Musiktheater in Nürnberg 1920–1950" am _fimt_ der Universität Bayreuth. Seine Interessengebiete sind Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte im ‚langen‘ 19. Jahrhunderts; Landesgeschichte und Geschichte städtischer Räume; Theorien und Methoden der Kulturwissenschaften (Mitglied der Arbeitsgruppe "Historische Netzwerkforschung").

Heft 8

Künstlerische Forschung im Kontext des Musiktheaters

Juli 2018

ISSN 2191-253X

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Sabine Mecking / Yvonne Wasserloos (Hg.), Inklusion & Exklusion. ,Deutsche‘ Musik in Europa und Nordamerika 1848-1945, Göttingen, V & R unipress, 2016, 380 S. (22 Abb.), ISBN 978-3-8471-0473-5, 55,00 EUR.

von Daniel Reupke, Dominik Frank

Gespeist aus einer gleichnamigen Tagung1 im Jahre 2012 unternehmen die Sozialwissenschaftlerin Sabine Mecking und die Musikwissenschaftlerin Yvonne Wasserloos in ihrem Sammelband den Versuch einer (Re-)Politisierung der Musikgeschichtsschreibung. Dabei bewegen Sie sich auf einem innovativen Pfad der derzeit emergierenden, interdisziplinären Analysen, die kulturelle Phänomene und nationalpolitische Handlungen kausal zu verbinden suchen.2 Auch gehen sie davon aus, dass bestimmte Musikgattungen eine nationale Aufladung erfahren und dadurch eine identitätstiftende Wirkung für eine Gruppe entfalten. Die Düsseldorfer Herausgeberinnen wählen dafür die als typisch deutsch empfundene symphonische und chorische Musik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und reflektieren deren Bedeutung für deutschstämmige Bevölkerungen im In- und Ausland. In diesem Zusammenhang versuchen sie auch, dass soziologische Konzept der Inklusion und Exklusion als roten Analysefaden zu etablieren.

Sabine Mecking erläutert daher in einer Einleitung zunächst die Bedeutung von Musik für die Selbstfindung und -darstellung des und der Deutschen durch die emotionalisierende Wirkung der Musik. Diese Wirkmechanismen offenzulegen ist die Aufgabe des vorliegenden Bandes. Ein Problem ist dabei das Ephemere der musikalischen Performance und die willkürliche Zuordbarkeit musikalischer Symbole. Letztere ermöglicht jedoch die politische Benutzung der Musik durch oder gegen die Mächtigen und deren Zwecke (S. 10). Im 19. Jahrhundert begann unter anderem die Instrumentalisierung von Musik zur Herstellung „emotionaler Geborgenheit“ (S. 13) und der Abgrenzung zu anderen Nationen. Mecking beschreibt ganz richtig, dass im Gegensatz zu den europäischen Staatsnationen die Entstehung der deutschen Kulturnation lange vor der eigentlichen Nationalstaatsgründung (1871) durch eine Materialisierung in Kunst und Musik erfolgte (S. 17). Hier hätte man den deutsch-französischen Sängerkrieg von 1841 als emblematisches Beispiel nennen können. Das Lied wurde zur Ikone einer kulturellen Vormachtstellung des deutschen Volkes in der Welt, eine Haltung, die auch der Erste Weltkrieg nicht zu erschüttern vermochte und die nach 1918 noch weitaus zusammenbindender wirkte (S. 23). Diese Indentitätsstiftung galt auch für die deutschen Minderheiten im Ausland.

Die ersten Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit der deutschen Symphonik und ihrem ersten Kristallisationspunkt Leipzig. Unter Carl Reinecke stand hier die Bewahrung eines konservativ-akademischen Stils im Vordergrund, also eine Frontstellung gegenüber den Neutönern in Bayreuth und Weimar (Wagner und Liszt). Dadurch entfernte sich das Konservatorium von seinen Wurzeln (Mendelssohn) und verlor gleichzeitig die Anschlussfähigkeit an die Moderne um 1900 wie Christiane Wiesenfeldt ausführt. Diese Entwicklung sei jedoch mit rein musikanalytischen Mitteln nicht allein zu fassen, sondern eingebettet in eine allgemeine Nationalisierung des musikalischen Diskurses. Hier schließt Stefan Keym an, wenn er zunächst Leipziger Aufführungsstatistiken auszählt und dann die Rezeption in der Leipziger Musikpresse analysiert: Im Zusammenhang mit dem dänisch-stämmigen Dirigenten Niels W. Gade wurde dort erstmals von einem „nordischen Ton“ gesprochen. Dennoch entzogen die konservativen Kritiker die Symphonik als absolute Musik einer nationalen Vereinnahmung, wertete jedoch gleichzeitig von der als Ideal angenommenen deutschen Symphonie herab. Auch diese Bewertung ist nicht musikanalytisch erklärbar, sondern willkürlich gesetzt, wodurch selbst missliebige deutsche Komponisten (Brahms) angegriffen werden konnten. Das Bild deutscher Überlegenheit verstärkt sich nach 1918 und existiert noch nach der Gründung der Bundesrepublik fort. Dies unternauert Harald Lönnecker mit seinem rein historisch-biographischen Zugriff auf die Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser und Joseph Müller-Blattau: Der erste deutschnationaler, der seine konservativen Standpunkte ohne Abstriche über drei Jahrzehnte bis in die junge Bundesrepublik beibehält. Der zweite Vordenker der Jugendmusik des NS-Regimes und bis 1963 Professor in Saarbrücken.

Auch die Beiträge von Heike Bungert zu deutsch-amerikanischen Sängerfesten im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts sowie Stefan Manz zu deutschen Musikern und nationaler Abgrenzung in Großbritannien um 1900 überzeugen durch eine Fülle an ausgewerteten Quellen wie etwa Programmzetteln und Zeitungsberichten. Interessanterweise stellt Manz auch das Gegenbild zur deutschen Identitätsstiftung durch Musik, die „Germanophobie“ des britischen Nationalismus und seines musikalischen Niederschlags dar. Dem entgegengesetzt beleuchtet der Beitrag von Alexander Friedman die Beethoven-Rezeption in der Sowjetunion, welche trotz anti-deutscher Stimmung stets positiv war. Zwischen musikalischem Genie und antifaschistisch gesinntem Revolutionär galt der Komponist hier als „Ausnahme-Deutscher“. Gegen diese umfassend recherchierten Beiträge wirkt der sehr knapp gehaltene Beitrag von Stefanie Striegl zum Fünfkirchener/Pécser Männergesangsverein in seiner Quellenauswahl und Argumentation weniger stringent.

Dietmar Klenke beschäftigt sich in seinem analytisch hochinteressanten Beitrag mit dem 1862 gegründeten Deutschen Sängerbund als einer der wichtigsten Integrationsinstitutionen der deutschen Musiklandschaft. In der Weimarer Republik pflegten die immerhin 500.000 Mitglieder eine am deutschen Lied und dem Ideal des mittelalterlichen Sängertums gespeisten Konservativismus. Auffällig dabei ist jedoch die Resistenz gegen antisemitische Tendenzen, die sich in der Bedeutung der Chormusik des getauften Juden Felix Mendelssohn-Batholdys offenbarte. An seinen deskriptiven Teil schließt Klenke eine kommunikationstheoretische Analyse um den Begriff der Medialität an: Die Chöre grenzten sich als eine Teilöffentlichkeit ab, benutzten jedoch meist einen agitatorischen Kommunikationsstil. Dabei galt ihnen das deutsche Lied als gemeinschaftsbildender Gegenentwurf zur unruhigen Weimarer Republik, eine Verbindung zum politischen Parlamentarismus stellt das inklusive Umfeld des Vereinslebens heraus. Auffällig war eine formale Intermedialität, die sich in der Präsentation von wortsprachlich-ideologischen Leitbildern, vorgetragen von einer uniformierten Chormasse, manifestierten; den Höhepunkt chorischen Schaffens stellten performative Gefallenengedenken dar. Dieser Punkt machte die Chöre dann auch anfällig für einen übersteigerten Nationalismus und eine Instrumentalisierung der Chortradition im NS.

Helmke Jan Keden und Yvonne Wasserloos beschäftigen sich anhand zeitgenössischen Schrifttums mit der Distribution des deutschen Konzepts des „Nordischen“ in Nordeuropa. Wasserloos beschreibt den Versuch der Nationalsozialisten unter Benutzung der Volksliedtradition der Dänen diese für die Gemeinschaft in der „nordischen Rasse“ zu gewinnen. Während der Besetzung Dänemarks gewinnt dort jedoch der „Alsang“ und seine Gegenkonzepte an Bedeutung. Gleiches gelingt für die deutschsprachige Chorlandschaft des nach dem Versaillers Vertrag vom Deutschen Reich an Dänemark abgetrennten Nordschleswigs. Keden berichtet in einer Mikroanalyse von dem Zusammenhalt der deutschen Minderheit wie auch deren Anerkennung in Dänemark. Beide Untersuchungen offenbaren eine spannende Überkreuzstellung von Wirkungsmechanismen der emotionalen Identitätsstiftung.

Die Beiträge von Marie-Hélène Benoit-Otis zur „Mozart-Woche des Deutschen Reiches“ 1941 in Wien sowie von Manuele Schwartz zur Musikpolitik Deutschlands im besetzten Frankreich während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich überzeugen durch einen interdisziplinären Ansatz zwischen Musik-, Geschichts- und Politikwissenschaft. Beide arbeiten die Ambivalenzen der nationalsozialistischen Kulturpolitik, verursacht durch die polykratischen Kompetenzüberschneidungen und Einzelinteressen der Akteure, anhand von vielfältigem Quellenmaterial heraus und zeigen, dass „die“ nationalsozialistische Musik- bzw. Kulturpolitik schlichtweg nicht existierte. Hervorzuheben ist auch der Beitrag Mauro Fosco Bertolas, der, ausgehend von Rossinis Guillaume Tell die sublimen ideologischen Konstruktionen von „Heimat“, von Inklusion und Exklusion in der Filmmusik von Wolfgang Zeller zu Veit Harlans Immensee analysiert. Wie hier Film- und Literaturwissenschaft – der Film basiert auf Theodor Storms gleichnamiger Novelle – mit Musik- und Politikwissenschaft verschränkt werden, um eine vielschichte Deutung des scheinbar unpolitischen Films zu liefern, zeigt in idealtypischer Weise den Gewinn interdisziplinärer Forschung.

Leider fällt der letzte Beitrag des Bandes merklich ab. Der Untertitel „Mechanismen der Inklusion und Exklusion“ lässt an einen den Band abschließenden und zusammenfassenden Artikel denken, dies ist jedoch nicht der Fall. Volker Kalisch beginnt mit Anekdoten scheinbar „exotischer“ Wassermusik auf den Solomon-Inseln, wechselt zum Stil eines launigen Gelehrtenaufsatzes und endet, die Philosophie Kants scheinbar willkürlich zitierend, in transzendenten Seins-Bewusstseinsbildern. Was als notwendige Methodenkritik angekündigt wird, endet esoterisch: „Die gesuchte andere Wissensform bringt hingegen kein Wissen im tradierten Sinne, sondern erhellt unser umfassendes Seinsbewusstsein, in dem wir uns immer schon befinden. Der Sprung zu ihm ist für den wissenschaftlichen Verstand kaum möglich. […] Erkenntnis ist […] der verantwortete Bereich eines Denkens, das ohne herrschaftliche Vereinnahmung (Inklusion) Mensch und Welt und Welt und Mensch in ihrer unauflöslichen Verbundenheit belässt.“ (S. 352f.) Was diese Definition mit den anderen 13 Artikeln zu tun hat, die mit einem konkreten, politisch-historischen Verständnis von Inklusion und Exklusion operieren, bleibt rätselhaft.

Der hochwertig hergestellte Sammelband glänzt durch eine saubere Redaktion und vor allem durch ein ungewöhnlich umfangreiches Register, dass neben Personen und Orten auch Werke und Institutionen verzeichnet. Die weitaus meisten Beiträge zeugen von faktenorientierten Sammlerfleiß und handwerklich solider Interpretation. Die Benutzung verschiedener Quellenarten (Quellencrossing) und methodisch interdisziplinäre Analysen werden beispielhaft vorgeführt und tragen zu einem nachhaltigen Validitätsgewinn bei. Dennoch lässt sich wie bereits die Einleitung vermuten ließ, ein roter Faden nicht leicht ziehen und trotz der grundsätzlichen Theoretisierung (Anderson, Bourdieu) unterbleibt eine Berücksichtigung aktueller Literatur insbesondere zu Inklusion und Exklusion.3 So subsummieren einige Beiträge ihre Findungen unter das Konzept von Inklusion und Exklusion im metaphorischen Sinne und bleiben den Mechanismus dahinter schuldig. Nichts desto trotz ist die Wirkmächtigkeit des Politischen in der Musik treffend beschreiben worden, wodurch der Band an vielen Stellen neu und weiter denken lässt. 

1Vgl. den Tagungsbericht von Jonas Uchtmann in H-Soz-Kult, 24.04.2013, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4770 (Zugriff 12.07.2018).

2z.B. Wolfram Pyta, Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse, München 2015.

3z.B. Herbert Uerling / Iulia-Karin Patrut (Hg.), Inklusion/Exklusion und Kultur. Theoretische Perspektiven und Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Köln 2013.